Der Philosoph und Autor Michael Schmidt-Salomon ist seit seinem 2005 erschienenen «Manifest des evolutionären Humanismus» eine der wichtigsten säkular-humanistischen Stimmen im deutschsprachigen Raum. Nun hat er ein neues Buch veröffentlicht: Die Evolution des Denkens: Das moderne Weltbild – und wem wir es verdanken. Andreas Kyriacou unterhielt sich mit ihm über sein neustes Werk.
AK: Im Sommer 2022 hattest du bei einem Kaffeegespräch angekündigt, dass du dich vermehrt aus der Öffentlichkeit zurückziehen und vor allem keine Bücher mehr schreiben wolltest. Und nun legst du ein neues Werk mit fast 400 Seiten vor. Was gab den Ansporn, doch noch einmal in die Tasten zu hauen?
MSS: Tatsächlich wollte ich meiner Familie kein weiteres Buch mehr zumuten, da ich gar nicht anders kann, als im «Zustand der Besessenheit» zu schreiben, manchmal 30 Stunden am Stück. Dann allerdings hörte ich auf dem Kortizes-Symposium im Herbst 2022, man könne die «Genialität» einer Person quantitativ anhand der Vielzahl ihrer Wikipedia-Einträge erfassen. Diese Vorstellung hat mich irgendwie aufgeregt, schliesslich gibt es zu Donald Trump sehr viel mehr Wikipedia-Seiten als zu Marie Curie oder Alfred Wegener. Eine Woche später konnte ich nachts nicht schlafen, da meine Gedanken noch immer um dieses Thema kreisten. Also stand ich auf und tippte zwischen 4 und 5 Uhr morgens das Exposé sowie das Inhaltsverzeichnis für ein mögliches Buch in den Computer. Völlig übermüdet und ohne gross darüber nachzudenken, schickte ich das Ganze an meine Agentin. Wenige Tage später kam das Verlagsangebot herein – und ich aus der Nummer nicht mehr heraus! Meiner Familie musste ich gestehen, dass ich mein Versprechen aus Übermüdung gebrochen hatte, was zunächst nur auf begrenzte Begeisterung stiess. Letztlich aber bin ich froh darüber, das Buch geschrieben zu haben, da es mir selbst sehr gut gefällt und es zudem auch noch perfekt zu unserem Stiftungsjubiläum passt: 2024 wird die Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) nämlich 20 Jahre alt – und das Buch ist in erster Linie eine Hommage an jene Menschen, auf deren Erkenntnissen das Weltbild der gbs massgeblich gründet.
Du gibst uns Einblick in das Leben von zehn Personen, an denen du den schrittweisen Erkenntnisgewinn unserer Spezies aufzeigst. Du erzählst, mit wem sie im Austausch waren und welche Debatten sie führten. Gibt es eine Epoche, ein Gespräch, an dem du gerne dabei gewesen wärst?
Ich hätte alle 10 «Influencer», die ich in dem Buch beschreibe, liebend gerne getroffen. In London hätte man im 19. Jahrhundert Charles Darwin und Karl Marx besuchen können, die ja gar nicht so weit voneinander entfernt lebten, auch wenn sie sich persönlich niemals begegneten. Gerne wäre ich auch bei den gemeinsamen Wanderausflügen von Marie Curie und Albert Einstein dabei gewesen, als Einstein seine ersten Ideen zur Allgemeinen Relativitätstheorie skizzierte. Aber wenn ich mich entscheiden müsste, so würde ich wohl einen Abstecher in den Garten des Epikur machen. Ich finde es faszinierend, dass Epikur schon vor 2300 Jahren die Grundlagen des modernen Weltbildes antizipieren konnte, vom atomaren Aufbau der Welt, dem evolutionären Aufstieg und Untergang der Arten, über die Annahme der Existenz vieler belebter Welten in einem unendlichen Universum bis hin zur Idee des Gesellschaftsvertrags. Man könnte sagen: Das moderne Weltbild ruht auf den Schultern von Epikur. Und das ist in gewisser Hinsicht auch der Clou des neuen Buches: Wenn man nämlich die «Evolution des Denkens» von Epikur aus betrachtet, wächst zusammen, was zusammengehört. So zeigt sich beispielsweise, dass die beiden «Epikureer» Marx und Nietzsche sehr viel mehr miteinander verbindet, als man auf den ersten Blick annehmen würde. (…)